Von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zu den immanenten Zielen unserer Kultur (10.2018)
Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen definiert Kultur in den Kategorien von Sprache, Mythos und Kunst. Die geistige Tätigkeit, die der gemeinsame Nenner all dieser Wege ist, meint immer ein Beleben von Dingen und Phänomenen, die wir einerseits in der Natur vorfinden und dann in einer Weise wahrnehmen, die sich nicht mehr allein aus dem Vorgefundenen selbst ergeben kann. Andererseits ist es nicht nur die Deutung des Vorgefundenen, die für unsere Fähigkeit spricht, Dinge geistig zu beleben, sondern auch das aktive Erschaffen von künstlichen Zeichen und Symbolen, denen wir dann eine Bedeutung zukommen lassen.
Cassirers Denken geht zunächst von einer aktiven Spontanität des Geistes aus, die es vermag, Momente von Dauer aus dem Fluss der Wahrnehmungserlebnisse herauszuheben. Der Philosoph Edmund Husserl meint in etwa dasselbe, wenn er in seiner Phänomenologie von „gelenkter Aufmerksamkeit“ spricht. Und in der Tat: Wir können unsere Konzentration zweifellos wandern lassen z. B. von einem Gegenstand hin zu einem Geräusch: von einem Stapel Bücher, der auf unserem Schreibtisch liegt, bis hin zu einer Unterhaltung, die im Nebenzimmer stattfindet. Besonders anschaulich drückt sich diesbezüglich der Maler David Hockney aus, der einmal in einem Interview behauptet hat, er könne ins Zentrum der der Milchstraße reisen. Er führte es vor, schloss die Augen und erklärte nach einem kurzen Augenblick des Innehaltens: „I’m back.“
Diese Fähigkeit, die Aufmerksamkeit wandern zu lassen, sie auf Dinge bewusst auszurichten, die nicht trieb- oder instinktgesteuert von unseren momentanen (Über)lebensnotwendigkeiten gefordert werden, ist Grundlage aller geistigen Aktivität. Zum Vergleich: Ihr gegenüber steht die sinnliche Passivität. Sie meint das Eintauchen in den Fluss der Wahrnehmungserlebnisse – ein Zustand, in den wir uns hineinfallen lassen. Anders als die tierische Existenz, dessen Überleben weitestgehend durch zuträgliche oder schmerzliche Erfahrungserlebnisse konditioniert wird, können wir Menschen uns bewusst in zivilisatorische Räume begeben, welche die schmerzlichen Aspekte aus dem Wahrnehmungsfluss herauszuhalten suchen. So haben wir auch die sinnliche Passivität kultiviert. Sie zeigt sich in einer Kultur des Genusses, des Rausches oder der Wellness im Allgemeinen. Sie steht dem eigentlichen Kulturbegriff fundamental entgegen und wird gleichsam von ihm überschattet; denn erst durch jenen Kulturbegriff, der von einer geistigen Spontanität ausgeht, wird auch die Kultur des Genusses überhaupt erst zu einer gestaltbaren Möglichkeit, wie sich noch zeigen lässt.
Die geistige Spontanität – eine gelenkte Aufmerksamkeit, wenn man so will – ist also die Voraussetzung für alle menschliche Kultur. Dieser willentliche Vorgang, der es uns ermöglicht, bei einem Wahrnehmungsphänomen geistig zu verweilen, ist noch ganz substanzlos. Erst die symbolische Formung vermag es, den betrachteten Augenblick aus dem Fluss der Wahrnehmungen herauszuheben und zu bewahren. Dabei findet die symbolische Formung auf drei Arten statt. Wir erschaffen Symbole des erkenntnistheoretischen, des mythischen und des künstlerischen Geistes.
Wirft man beispielsweise Gruppen von Menschen jenseits aller Zivilisation in die Welt hinein, werden sie allesamt unabhängig voneinander anfangen, Sprache, Religion und Kunst zu entwickeln. Alle individuellen Zeugnisse vergangener Hochkulturen lassen sich in besagte drei Kategorien einordnen. Auch wenn deren konkrete Symbolinhalte manchmal verloren gehen, zeigt sich doch auch hier die Bedeutung der symbolischen Formung zum einen für die individuelle Identität einer Kultur und zum anderen wahrlich darin, dass sich Inhalte des menschlichen Geistes über Jahrtausende hinweg transportieren lassen.
Was nun die Sprache anbelangt, so ist sie eine Symbolformung, deren Zeichen (Laute und Schrift) es vermögen, Konturen und Abgrenzungen aus dem Strom der Wahrnehmungsphänomene herauszuheben. Die allererste Aussage, die ein Mensch diesbezüglich treffen kann, ist die Unterscheidung zwischen „hier“ und „dort“ respektive zwischen „ich“ und „du“, was mit einem einfachen Fingerzeig angezeigt werden kann. Es ist die erste Abgrenzung, die erste Distinktion im Sinne einer begrifflichen Scharfstellung. Sprachlich definierte Gegenstände werden auf diese Weise vergleichbar und formen ein komplexes System von Beziehungen als Weltanschauung. Das Ziel der Sprache ist die Erkenntnis.
Was nun den Mythos betrifft, so lebt dieser aus dem unmittelbaren Eindruck, aus der Empfindung heraus. Seine geistige Aktivität formt neue Verhüllungen – Zeichen, die, wie es auch die Sprache vermag, erst einmal aus dem natürlichen Fluss der Wahrnehmungsphänomene herausgehoben werden. So wird der raschelnde Busch zum Sinnbild des göttlichen Wirkens, wenn ihm widererwarten kein Raubtier entspringt und der sich fürchtende Mensch in Ansehung seiner Furcht nun eine Heiligkeit der Erlösung empfindet. Die Sonne, die vom Mond verdunkelt wird, wird zum Beleg derselben Kraft. In beiden Bildern wird ein transzendentaler Wille dargestellt, der im Zeichen zwar erkannt, aber gleichzeitig undurchschaubar bleibt und der gerade durch diese Undurchschaubarkeit seine charakteristische Konsistenz erhält – über Zeit, Raum und alle Kausalität hinweg. – Etwas nun, das Cassirer so nicht erkannt hat, ist das Folgende; denn wenn man den Mythos von seiner einzigartigen bildenden Struktur her betrachtet, so ist sein Ziel die Hoffnung – eine Hoffnung gegen all jene Widrigkeiten, die in Natur und Erkenntnis als unausweichlich festgeschrieben werden. Stattdessen betrachtet Cassirer die Furcht und die Hoffnung auf ein und derselben Stufe. Während die Furcht aber etwas ist, das auch dem tierischen Bewusstsein als Erfahrung bekannt ist, bleibt die Hoffnung das Einzige, was man ausschließlich aus dem mythischen Geist heraus bildend in die Welt zu bringen vermag.
Was nun die Kunst und das künstlerische Bilden als symbolische Form anbelangt, so äußert sich Cassirer allenfalls in Nebensätzen. Die künstlerische Formung ist der Prozess des Bildens an sich, der sich aus einem Schauen und Wirken zusammensetzt, das sich wechselseitig bedingt. Auf diese Weise malt der Künstler beispielsweise ein Porträt, einen Sonnenuntergang, aber auch Abstraktes, das er dann gänzlich aus dem inneren Fluss der Wahrnehmung heraushebt. Wie bei der Sprache und beim Mythos wird auch hier die Raumwahrnehmung in eine bestimmte geistige Richtung gelenkt, dessen Ergebnis (das Kunstwerk) vom Menschen als eine reine Bereicherung seiner naturgegebenen Umwelt erkannt werden kann. Es ist hier nicht mehr der Sonnenuntergang selbst, sondern die malerische oder literarische Schilderung desselben – eine symbolische Form, die nunmehr über den Geist das Empfinden allzeitig anzuregen vermag wie jene wohlig warme Berührung, die mit dem tagtäglichen Absinken unseres Zentralgestirns verblasst. Über Cassirer hinaus gedacht ist das Ziel der Kunst eine solche Ästhetik. Ihre spezifische Befähigung ist es, anregende Wirkkräfte in der Seele zu entfalten – über den naturgegebenen Erfahrungsraum hinaus.
Betrachten wir Sprache, Mythos und Kunst nun von jenen Zielen her, die sich allein aus ihrem spezifischen Aufbau ergeben, dann sind es Erkenntnis, Hoffnung und Ästhetik, die wir auf dem jeweiligen Weg der symbolischen Formung in die Welt zu bringen vermögen. Das Erkennen dieser Kulturleistungen obliegt dem Willen. Ihm gegenüber steht jene sinnliche Passivität, die im dritten Absatz bereits angeklungen ist. Es ist eine sinnliche Passivität, welche die wohltuenden, die rauschhaften Elemente aus dem Fluss der Wahrnehmungserlebnisse herauszuheben und zu kultivieren sucht. Ihr Ziel ist das reine sinnliche Genießen. – In Faust vergleicht Goethe die feiernden Menschenmassen mit einem solch rauschenden Fluss, in welchem es sich bis zum Sinken lustig treiben lässt. „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ Es ist das Loslassen von den gesellschaftlichen Normen, das Loslassen von Notwendigkeiten des täglichen Mühsals, um eines Ausbruchs, des kultivierten Rausches willen, den wir als Ausgleich zu den Anstrengungen des Alltags pflegen. So bringt die sinnliche Passivität ganz eigene Kulturereignisse hervor.
Fakt aber ist, dass auch dem vermeintlich geistlosesten Kulturspektakel eine geistige Komponente innewohnt, die über das ritualisierte Erleben zu diesem Zeitpunkt, zu genau diesem Anlass ihre symbolische Form erhält. Die damit einhergehende gesellschaftliche Relevanz erlangt das Kulturereignis schlichtweg dadurch, dass ihm eine Menschengruppe Bedeutung beimisst. Dies geschieht über die Prozesse einer Vor- und Nachbereitung. Hier hat die sinnliche Erfahrung des eigentlichen Kulturerlebnisses bereits sprachliche, mythische oder künstlerische Entsprechungen gefunden, die das Erlebte zu einem mittelbaren Gegenstand machen. Kultur besteht aufgrund ihrer symbolischen Gestalt vor allem aus diesen antizipierenden bzw. rückschauenden Elementen. Die Kultur findet demnach also viel weniger während des eigentlich sinnlich erfahrbaren Anlasses statt, der ja höchstens einige Stunden andauert. Die übrige Zeitspanne respektive alles Vor- und Nachher wird vom geistigen Erleben eingenommen, das allenfalls hin und wieder in einem direkt erfahrbaren Kulturereignis kulminiert. Das eigentliche Kulturereignis selbst existiert also die meiste Zeit, während es nicht direkt stattfindet, in seiner symbolischen Form. Das gilt von der Oper bis zum Bierfest für alle Kulturereignisse gleichermaßen. Dem Bierfest, aber auch jedem anderen popkulturellem Event wird sich jedoch kaum eine erkenntnistheoretische, mythische oder ästhetische Qualität abgewinnen lassen – allenfalls als Werbetext, als Kult oder Marke. Und selbst wenn immanente geistige Elemente vorhanden sind, werden diese vom kultivierten Rauschzustand zugunsten eines gemeinschaftlich emotionalen Erlebens wieder überdeckt; denn das Ziel dieser Kultur ist dieselbe sinnliche Passivität, aus der sie hervorgeht. Sie kann damit allenfalls zum Träger einer von außen übergestülpten Ideologie werden, die dem Kulturereignis selbst jedoch nicht innewohnt. Die Frage ist immer: Was geht aus dem immanenten Inhalt des Kulturereignisses selbst hervor? – Die Antwort verweist auf besagte geistige Qualitäten, die Cassirer beschreibt und die sich dann im Bewusstein für die symbolischen Formungsprozesse auch in jedem Kulturereignis erkennen lassen.
Wie Kulturereignisse beim Publikum wahrgenommen werden, ist vor allem eine Anschauungsfrage. Die jeweilige Anschauung hängt auch davon ab, welche Grundhaltung dem Kulturteilnehmer von Kulturägern und Kulturschaffenden vermittelt wird. Erst mit einer inneren Einstellung, die sich der geistigen Spontanität und den daraus resultierenden geistigen Formungsprozessen bewusst ist, tritt jene identitätsstiftende Wertigkeit hervor, die für den Menschen gleichsam in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbar ist; denn auf diesen Formungsprozessen fußen auch transzendentale Begriffe wie Mitgefühl, Gerechtigkeit und Würde. Es sind geistige Gegenstände, die überhaupt nur über die Prozesse einer symbolischen Formung in die Welt gelangen können. All das beginnt mit einer Haltung, einer inneren Einstellung, in welcher der Kulturteilnehmer dem geistigen Gehalt seiner Kulturerfahrung einen höheren Stellenwert einzuräumen bereit ist als dem rauschhaften Erleben. Es ist die Aufgabe einer verantwortungsvollen Kulturarbeit, diese Haltung zu fördern.
J.-C. P. (10.2018)