Arno Schmidt und der Kuss (12.2017)
Der folgende Text ist die Einleitung zu einem halbstündigen und kurzweiligen Vortrag über Sigmund Freud, Arno Schmidt und Edgar Allan Poe. Der Text vermag es, die Zuhörer so einzustellen, dass diese sich mit einem völlig neuen Blick auch dem Alltäglichsten annhähern werden, um selbst zu entdecken, was Schmidt seinem Protagonisten an Etymtheorie in den Mund gelegt legt.
Arno Schmidt war pervers. Von dieser Perversität zeugt sein Hauptwerk, Zettels Traum. Gestaltungswut – Graphomanie ist der erste Eindruck, der sich bei der Betrachtung dieses 1.300 seitigen Buches einstellt: überbordende Typoskriptseiten mit Einschüben, Randnotizen, Durchstreichungen und mit einem Schriftbild, das den Klang der Worte lautmalerisch wiederzugeben sucht – gegen alle Regeln der Rechtschreibung. Zettels Traum ist pervers in jeder Hinsicht. Eine Perversität, die sich jedoch begründen lässt. Hören wir, wie Sigmund Freud den Kuss beschreibt:
„Eine bestimmte Berührung, die der beiderseitigen Lippenschleimhaut, hat ferner als Kuss bei vielen Völkern (die höchstzivilisiertesten darunter) einen hohen sexuellen Wert erhalten, obwohl die dabei in Betracht kommenden Körperteile nicht dem Geschlechtsapparat angehören, sondern den Eingang zum Verdauungskanal bilden. […] Die Perversionen sind entweder a) anatomische Überschreitungen, der für die geschlechtliche Vereinigung bestimmten Körperteile oder b) Verweilungen bei den intermediären Relationen zum Sexualobjekt, die normalerweise auf dem Weg zum endgültigen Sexualziel rasch durchschritten werden sollten.“
Das ist ernüchternd. Es zeigt aber, wo die Perversität beginnt. Man muss sich das einmal buchstäblich auf der Zunge zergehen lassen: Der Kuss, so Freud, ist pervers. Und die beiden Kriterien, welche diese Perversität ausmachen, werden gleichsam von Zettels Traum verkörpert.
1. Die anatomische Überschreitung der für die geschlechtliche Vereinigung bestimmten Körperteile entspricht der eingangs erwähnten Ausuferung des schmidtschen Textkorpus nach allen Seiten. Das ist augenscheinlich für jeden nachvollziehbar. Keinem Leser gelingt es, dieses Buch, Zettels Traum, auf Anhieb im Kopf zu „beschlafen“.
2. Das Verweilen allerdings bei den intermediären Relationen zum Sexualobjekt zeigt sich durch eine überbordende Penetration der literarischen Textmotive in Zettels Traum. Diese Penetration bezieht sich auf die Thesen, die von den Figuren in dem Buch verhandelt werden. Der geistige Raum wird ja libidinös erschlossen. Auch deshalb gehen in Zettels Traum die philologischen Streitgespräche fortwährend über eine zweckmäßige Beweisführung hinaus. Sie münden in der Tat ins Uferlose. Das ist orgiastisch und unterstreicht nicht den wissenschaftlichen, dafür aber den dialektischen Charakter des Werkes bis hin zur Sophistik: eine frivole Überzeugungskraft, die von dem eingangs erwähnten Exzess der Graphomanie auch noch befeuert wird.
Diese ganze Abnorm der äußeren und inneren Erscheinung von Zettels Traum pervertiert letztlich auch den Herstellungsprozess. Erst vor wenigen Jahren ist das Buch zum ersten Mal vollständig für die maschinelle Reproduktion gesetzt und gedruckt worden. Schmidts Schreiben erobert nämlich einen Raum für Individualität, der in den Maschinentexten unseres Buch- und Digitalzeitalters überhaupt nicht vorgesehen ist. Das Buch entzieht sich den gängigen Mitteln der Reproduzierbarkeit. Das geschieht nicht aus blindem Eifer. Vielmehr offenbart sich hier ein Denken, das bis in jene Schichten vordringt, die üblicherweise von anderen Autoren unangetastet bleiben, eben weil der Wunsch nach größtmöglicher Verbreitung des eigenen Werkes besteht. Schmidts Hauptwerk aber ist ein Lustakt am Text. Damit wird das Buch zu einem Statement für die Literatur als Kunst – eine Literatur als Kunst, eben weil das Buch all das mit einschließt, was ein Mensch an einem Text bespielen und gestalten kann. […]
J.-C. P. (12.2017)