Würdige Zeitzeugenliteratur – Fiete erzählt (05.2018)
Buchvorstellung: Inge Lammers und Hans Friedrich Nielsen, „Fiete erzählt – Erinnerungen eines Husumer Hafenjungen“ herausgegeben von Inge Lammers, 63 Seiten, Selbstverlag, 2003
Viele Menschen verspüren irgendwann ein Bedürfnis danach, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen und diese mit historischen Aufnahmen aus ihrem Privatbesitz zu illustrieren. Das hier vorliegende Buch ist im Gegensatz zu dem schon bekannten Werk von Erwin Jacobsen ein mustergültiges Exemplar dieser Gattung. Hans Friedrich Nielsens Geschichten, die von Inge Lammers niedergeschrieben wurden, lassen dabei keine Erinnerungen aus: Spiele und Kabbeleien mit den Nachbarskindern, aber auch Rohrstockprügel vom Direktor der Bürgerschule und späterem NSDAP-Ortsgruppenleiter Thomas Eichner sowie Begegnungen mit Zwangsarbeitern, die von den husumer Baustoffunternehmen beschäftigt wurden. Eine Geschichte erzählt zudem von den hunderten KZ-Häftlingen, die täglich durch Husums Straßen zu ihrer tödlichen Arbeit am Friesenwall getrieben wurden. Wir erfahren außerdem von Erlebnissen beim Schwarzschlachten und vom Kohleklau in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, aber auch von Zeltlagern und den husumer Fußballvereinen. Wir lesen vom Muschelgraben, von der Sootgemeinschaft und von vielem anderen Alltäglichen, das sich in Nielsens Nachbarschaft vor den unrühmlichen Hintergründen der 1930er- und 40er-Jahre ereignet hat. Einzig eine genauere Datierung der Fotos wäre wünschenswert gewesen. Ungeachtet dessen ist das Büchlein eine wertvolle Ergänzung zu den großen wissenschaftlichen Dokumentationen. Es schildert Wahrheit zwar als subjektive Erfahrung, aber mit einem Grundbewusstsein für das tatsächliche Zeitgeschehen, wodurch Nielsens eigene Lebenswirklichkeit auf verantwortungsvolle Weise erfahrbar wird. Es ist genau das Buch, das sich jeder zum Vorbild nehmen sollte, der auf ähnliche Weise seine Erinnerungen und Privatarchive in Buchform zu öffnen gedenkt. „Fiete erzählt“ steht damit für die Art von Zeitzeugenliteratur, die es zu fördern gilt. Das Büchlein von Inge Lammers mit den Geschichten von Hans Friedrich Nielsen ist in diesem Sinne uneingeschränkt lesens- und empfehlenswert.
Aufgeschrieben und herausgegeben wurde das Buch bereits im Jahr 2003. „Das ist jetzt auch schon 15 Jahre her“, erinnert sich Inge Lammers: „Ich war Fietes Nachbarin. Außerdem war er damals Hausmeister an der Klaus-Groth-Grundschule, die meine Kinder besucht haben. Jeder kannte Fietes Geschichten. Und als ich dann in Rente ging, habe ich Zeit gehabt, sie aufzuschreiben.“
Im Mai 2003 wurde das Buch im Husumer Schifffahrtsmuseum vorgestellt mit Unterstützung der Familie Cohrs (Modehaus CJ Schmidt), wo Inge Lammers bis zu ihrer Pensionierung als Sekretärin beschäftigt gewesen war. Im Jahr 2006 verstarb Hans Friedrich Nielsen, der sich unter anderem über viele Jahrzehnte in den husumer Fußballvereinen engagiert hatte. Die 3.600 Exemplare der einzigen Auflage seiner gedruckten Geschichten sind heute längst vergriffen, allerdings noch vereinzelt antiquarisch auffindbar. Dabei ist das Buch nach wie vor von ungebrochenem Interesse; denn seit dem Erscheinen liest Inge Lammers immer mal wieder in Husum und Umgebung daraus vor. Dazu zeigt sie die historischen Aufnahmen, die in dem Buch verwendet werden. „Auf einer Lesung beim Sozialverband mit Herr Böttcher vor ein paar Jahren kamen rund 80 Besucher“, erinnert sich Inge Lammers. Im Jahr 2017 las sie zweimal beim Roten Kreuz in der Goethestraße und zuletzt im April 2018 in der Heimatgruppe des Seniorenzentrums Villa Spethmann. Eine Würdigung seitens der Stadt und des Landkreises hat es nie gegeben. Dabei ist „Fiete erzählt“ das Buch, von dem jede Generation nur wollen kann, dass Eltern und Großeltern eines Tages derart ihre Erinnerungen zu Papier bringen. Hier wird auf verantwortungsvolle Weise Identität gestiftet und vererbt.
„Fiete erzählt“ ist für Interessierte leider nur noch im Kreisarchiv Nordfriesland einsehbar. Für Lesungen und weitere Anfragen steht Frau Lammers allerdings nach wie vor zur Verfügung.
J.-C. P. (05.2018)