7. Oktober – Ein Jahr nach dem Hamas-Massaker ziehen die jüdischen Verbände eine traurige Bilanz

Walter Blender, Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein Igor Wolodarski, Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein
Walter Blender, Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein<br>Igor Wolodarski, Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein
Walter Blender (links) vom Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein und Igor Wolodarski (rechts) von der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein

Zum 1. Jahrestag des Massakers der radikal-islamistischen Hamas in Israel kamen die Vertreter der jüdischen Verbände mit Akteuren und Gästen der Landespolitik in Kiel zusammen. Sie ziehen eine traurige Bilanz.

„Es war wie in Tsunami“, erinnert sich Igor Wolodarski, als er am 7. Oktober 2023 die Fernsehbilder von dem Massaker sah, das Hamas-Terroristen in Israel verübt hatten. 1.139 Menschen wurden ermordet, über 200 weitere wurden in den Gazastreifen verschleppt. Für den Vertreter der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein war klar: „Es war ein Zivilisationsbruch zum ersten Mal nach dem Holocaust.“

Walter Blender, der dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein vorsteht, habe damals vor allem an seine Töchter gedacht, die in Israel leben. „Man spürte, das war erst der Anfang“, erinnert er sich angesichts der Fernsehbilder von Hamas-Terroristen, die israelische Frauen auf Lkws luden. „Man hat schon geschaut, ob die eigene Tochter dabei ist. Man spürt Lähmung, Schockstarre.“

Muslime in Schleswig-Holstein verweigern das Gespräch

Blender berichtet, er habe erst letzte Woche als jüdischer Vertreter an einem Dialog teilnehmen wollen – zusammen mit einem christlichen und einem muslimischen Gesprächspartner. Doch von muslimischer Seite sei niemand bereit gewesen, über die Vorgänge in Nahost zu sprechen. Nur die Ahmadiyya-Gemeinde, die allerdings in der muslimischen Gemeinschaft selbst umstritten sei1, beteilige sich an solchen Gesprächen.

„Der 7. Oktober ist eine Zäsur in der Geschichtsschreibung des Staates Israel“, sagt Christian Meyer-Heidemann, Landesbeauftragter für politische Bildung

Eine ähnliche Erfahrung schildert der Landesbeauftragte für politische Bildung Christian Meyer-Heidemann. Für die heutige Veranstaltung habe man versucht, einen Schleswig-Holsteiner mit palästinensischen Wurzeln zu finden, der seine Sicht auf die Dinge schildere. „Das ist uns nicht gelungen.“

Strategien gegen den Antisemitismus

„Wir müssen mehr Aufklärung betreiben, was die Geschichte und die Religionen anbelangt“, fordert Walter Blender. „Es muss etwas getan werden! Das ist nicht nur eine Gefahr für uns, sondern für die Demokratie.“ Blender will dies auch im Sinne einer Medienkritik verstanden wissen. Dabei wird er von Wolodarski unterstützt. Oftmals, so der Tenor, wüssten Journalisten zu wenig von der jüdischen Kultur.

Karin Prien, Ministerin für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur erinnert an die Wichtigkeit des Zuhörens

Was Jüdinnen und Juden im Zuge des steigenden Antisemitismus bewege, sei die Gleichgültigkeit, erklärt Bildungsministerin Karin Prien. „Unsere Erinnerungskultur hat uns gelehrt, dass die Leute auch damals weggeschaut haben.“ Daher gelte es, hinzusehen und den Menschen zuzuhören.

Unter den Gästen auf dem Podium ist auch Cathrin Lippert-Shalev. Die in Schleswig-Holstein geborene Israelin arbeitet als Lehrerin in Haifa am dortigen Zentrum für Deutsche und Europäische Studien. „Unkenntnis macht Angst!“, deshalb plädiere sie auch in der Bildungsarbeit dafür, offen zu sein und Kulturen kennenlernen zu wollen. Es ginge darum, Gemeinschaft zu stiften. „Das muss schon im Kindergarten beginnen.“

Cathrin Lippert-Shalev schildert den Alltag in Israel. „Die Situation macht mich fertig. Einer meiner Söhne hat einen Einberufungsbefehl erhalten.“

Jüdisches Leben ist immer ein Anschlagsziel

In Israel sei es verpflichtend, beim Bau eines Hauses einen Bunker oder Schutzraum mit einzuplanen, so Lippert-Shalev. Nur ungern lasse sie ihre Kinder bei Freunden übernachten, die in älteren Häusern noch ohne Bunker lebten.

Einer ihrer Söhne habe am 7. Oktober das Nova-Musik-Festival besuchen wollen, auf dem die Hamas-Terroristen eines ihrer Massaker verübten. „Er hat sich jedoch kurz entschlossen, nicht zu fahren. Seine Freunde haben dort nur überlebt, weil ein Terrorist Ladehemmungen hatte.“ Kinder ihrer Freunde seien aber dort ermordet worden. „Mir fehlt sehr oft die Verurteilung dieses barbarischen unmenschlichen Aktes vom 7. Oktober. Es waren nicht nur Terroristen. Kameras haben gezeigt, dass die Zivilbevölkerung mitgemacht hat.“

Es sind diese Zustände, die auch Wolodarski während seines Podiumsgesprächs kritisiert, wenn er in Bezug auf Ereignisse in Deutschland sagt: „Mich macht es sprachlos, wie der Tod von über 1.000 Juden mit Süßigkeiten und Freude gefeiert wurde.“

Gerhard Ulrich, Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus des Landes Schleswig-Holstein: „Dieser Antisemitismus wirkt wie ein Katalysator.“

Walter Blender erinnert an die 1990-Jahre, in denen es noch möglich gewesen sei, dass ein Rabbi mit Kippa problemlos im Zug von Berlin nach Kiel habe fahren können. Heute gebe es regelrechte No-Go-Areas für Juden mit Kippa – insbesondere in muslimisch geprägten Stadtvierteln. Auch jüdische Stände auf Stadt- und Kulturfesten organisiere heute keiner mehr. „Das ist ein potenzielles Anschlagsziel.“

Täter-Opfer-Umkehr erkennen

In seinem Schlusswort spricht Gerhard Ulrich vom 7. Oktober als von dem Anfang der Gewaltspirale im Nahen Osten. „Wir denken auch an die, die unendliches Leid ertragen. Aber indem wir den Ursprung verschweigen, entsteht eine Täter-Opfer-Umkehr.“

Die Musikerin und Sängerin Alexandra Lachmann aus Hamburg

Gelebte Jüdische Kultur

Die einzelnen Redebeiträge, die hier nicht chronologisch, sondern thematisch verdichtet sind, wurden durch musikalische Beiträge der Hamburger Musikerin Alexandra Lachmann miteinander verbunden. Sie gab Lieder zum Besten, die nachdenklich und hoffnungsvoll stimmten. Darunter waren Musikstücke wie „Acheinu“, „Ohse Shalom“ und „Mir Leben Eybig“.

Fußnote:

  1. Tatsächlich sieht sich die Ahmadiyya-Gemeinde vielerorts selbst religiöser Verfolgung durch den Islam ausgesetzt ↩︎