Jacques Derrida – Geschichtsschreibung & Dekonstruktion
Der Aufsatz bezieht sich auf folgende Publikation: Jacques Derrida; Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel – Paul de Mans Krieg II – Memoires II; Passagen Verlag GmbH; Wien; 1988 // Originalausgabe: Jacques Derrida; Comme le bruit de la mer au fond d’un coquillage; Édition Galilée; Paris; 1988
Our wills and fates do so contrary run
That our devices still are overthrown,
Our thoughts are ours, their ends none of our own
[Shakespeare, Hamlet, Akt 3, Szene 2]
Jacques Derrida bevorzugte einen Begriff von Zukunft, der jenseits des Planbaren liegt. Im Gegensatz zu „le futur“ bezeichnete er mit „l’avenir“ (das Kommende) solche Ereignisse, die ohne eigenes Zutun eintreten. L’avernir‘ meint also etwas Unvorhergesehenes, das plötzlich hereinbricht.
In diesem Sinne geschah es, dass Derrida, der algerische Jude, nach dem Tod seines philosophischen Wegbegleiters und Freundes Paul de Man mit antisemitischen Artikeln konfrontiert wurde, die dieser zwischen 1940 und 1942 während der deutschen Besatzung in Belgien verfasst hatte. Derrida schildert in seinem Buch „Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel“1 den Umgang mit dieser Entdeckung. Für Derrida tritt nun ein nicht aufzulösender Zwiespalt in den Vordergrund: ein Zwiespalt, der darin besteht, eine geliebte Person, die verstorben ist, und die sich folglich auch nicht mehr erklären kann, gleichzeitig schützen und anklagen zu müssen. – Später soll uns die Frage beschäftigen, inwieweit Derridas Philosophie der Dekonstruktion und seine Begrifflichkeit der „differance“ nicht nur ihm selbst, sondern überhaupt Strategien eröffnen, einen solchen Spagat zu meistern. Zunächst aber stehen seine unmittelbaren Gedanken im Vordergrund. Derrida stellt sich nämlich zunächst die Frage nach Verantwortung. Das ist das erste, was er tut: Er stellt sich die Frage nach der Verantwortung, die nun für ihn mit einem solchen Erbe einhergeht. – ! – Dieses Übernehmen von Verantwortung ist der Umgang, der alles Kommende zu einen Gegenstand des Planbaren zu machen sucht, und zwar um einer Zukunft willen, die als Antizipation einer besseren Gegenwart gedacht wird. Das ist auch der Grund, warum Geschichtsschreibung eine philosophische Angelegenheit ist, die eben nicht allein auf den Fakten der Vergangenheit beruht, sondern gleichsam von der Zukunft her gedacht werden muss, um dem plötzlich Kommenden im Hier und Jetzt den Boden zu entziehen.
An dem Fall Paul de Mans, der ohne Derridas eigenes Zutun eingetreten ist, und für den er dennoch eine Verantwortung zu übernehmen gewillt war, wird aber noch etwas anderes deutlich; denn es ist vielerorts charakteristisch für das Schweigen von Tätern und Kollaborateuren, dass sie die Schuld eben nicht mit ins Grab nehmen, sondern sie ihren Nachfahren hinterlassen. – Hierzu ist anzumerken, dass Derrida lange vor den erschütternden Ereignissen in einem Fersehinterview einmal Heidegger zitiert hat, der auf die Frage, wie die Biografie eines Philosophen zu verfassen sei, am Beispiel von Aristoteles geantwortet habe: „Er wurde geboren, dachte und starb.“ Der Rest wäre Anekdote. Doch so einfach ist es nicht. Alles Weltliche vom geistigen Wirken eines Menschen trennen zu wollen, mag Heidegger wohl bereits in Ansehung seiner eigenen explizit antisemitischen Schriften gefordert haben, die nach dessen Tode an die Öffentlichkeit gelangt sind. Auch Heidegger wird sich dazu nicht mehr äußern können. So ist es anzunehmen: Zukünftige Generationen werden derartige Erbschaften zu schultern haben. Sie werden an schon bekannte Fälle wie die obigen erinnert werden oder aber neue Demaskierungen vorzunehmen haben, die ein bereits gefestigtes Menschenbild – ein Vorbild – vom dem entrücken, wohin es eigentlich leiten will. Davon entrückt sind dann auch die Werke. Sie wirken plötzlich unglaubwürdig im Angesicht der Verachtung, die ihre Schöpfer all den Menschen entgegengebracht haben, denen sie eigentlich nutzen sollten. So begründet sich der Zwiespalt.
Wohl auch aus diesem Grunde entscheidet sich Derrida bei der Analyse der Artikel für eine Betrachtung nach dem Prinzip „einerseits/andererseits“. Die oben beschriebene Janusköpfigkeit de Mans spiegelt sich jedenfalls nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Struktur von Derridas Analyse. Im Zuge dieser differenzierten Betrachtung schrumpft nun die Anklage gegen de Man auf einige wirklich problematische Absätze zusammen, die sich in wenigen Artikeln finden. Diese haben allerdings eine unauslöschliche Wunde bei Derrida hinterlassen.
Der kritikwürdigste Artikel de Mans ist mit „Die Juden in der zeitgenössischen Literatur“1 betitelt. Derrida findet dort einerseits positive Fragmente. De Man erteilt beispielsweise dem vulgären Antisemitismus eine deutliche Absage. In diesem Zusammenhang kritisiert de Man auch Pauschalurteile, die „die ganze zeitgenössische [Literatur]produktion als verpestet“ brandmarken, nur weil man „ein paar jüdische Schriftsteller unter lateinisierten Pseudonymen entdeckte“. De Man übt diese Kritik allerdings nicht, um dem Irrsinn Einhalt zu gebieten, sondern um einen vermeintlich gebildeten Antisemitismus folgen zu lassen. So bescheinigt er den jüdischen Schriftstellern zwar einen gewichtigen Einfluss auf die Literatur, tut dies aber nur, um zu behaupten, dass dies Wirken ohnehin nur ihrer Persönlichkeit respektive dem „jüdischen Geist“ entspräche, den er wie folgt charakterisiert: Geistesschärfe, Intellektualismus, hellsichtige Analysearbeit und die Fähigkeit, sich Lehren anzueignen. Daraus folgert er, dass ein jeglicher Roman, der überhaupt aus einer solchen Atmosphäre heraus entstanden ist, die Bezeichnung „verjudet“ in gewissem Grad verdienen würde. Letztlich sagt er also aus, dass die ganze zeitgenössische Literaturproduktion eben doch „verpestet“ ist; denn die unbeschreibar positiven Eigenschaften, die er dem jüdischen Geist zuschreibt, gelten unzweifelhaft für jeden, der es in der Literatur zu etwas gebracht hat. Bei de Man erfahren diese Eigenschaften jedoch eine Negativwertung. So werden Literatur und die Juden über die abstruse Sterotypenzuweisung (Intellektualismus = verjudet) kollektiv entwertet. – Zwischen den Zeilen kann man selbstverständlich auch etwas anderes lesen; denn die benannten „jüdischen“ Geisteseigenschaften, die jegliche literarische, aber auch wissenschaftliche Leistung überhaupt erst möglich machen, verweisen im Umkehrschluss auf die kulturelle Qualität der nationalsozialistischen Wirklichkeit. Jacques Derrida hebt dies andererseits hervor. Seine disjunktive Betrachtung der einzelnen Absätze lassen das Bild Paul de Mans differenzierter erscheinen.
Trotz seiner Analyse verweigert sich Derrida aber einem finalen Urteil. Das ist genauso typisch für seine Dekonstruktion; denn Derrida erkennt die logozentrische Struktur von Texten, die immerzu um einen Kerngedanken geordnet sind, als totalitär, eben weil eine solche Struktur letztlich einen Zentralgedanken, eine Synthese, ein Ziel, eine Pointe oder eben ein Urteil hervortreten lässt. Dem gegenüber steht ein Spiel, um genau zu sein: das Zerspielen des Inhalts in die ihn bedingenden Möglichkeiten. Dadurch werden weitere Möglichkeiten freigesetzt, und zwar solche, die im Ursprungstext noch als Spur vorhanden sind, sich dort allerdings kaum mehr wahrnehmen lassen, eben weil man sie zuvor dem Zentrum eines Textes unterworfen hat. In einem solchen Spiel klingt nun auch die „differance“ an. Eine Besonderheit des in dem Wort mitschwingenden Gedankengebäudes ist es, dass es die Feststellung des bereits erwähnten logozentrischen Punktes, den die Begriffs- und Argumentationshierarchien immerzu herausheben wollen, auf später zu verschieben sucht. Dies geschieht zugunsten des bereits erwähnten Spiels respektive zu den Gunsten eines Zustands, in dem sämtliche Möglichkeiten wieder gleichwertig zur Verfügung stehen.
Dem ist nun hinzuzufügen, dass uns dieser offene Zustand viel eher als Menschen definiert als dialektisch erschlossenen Eindeutigkeiten und logozentrisch bewiesene Wahrheiten. Eben hieraus begründet sich ein Teil der Verstörung, die mit Enthüllungen wie den eingangs erwähnten zusammenhängt; denn unser griechisch-abendländisches Denken strebt bei aller Differenziertheit innerhalb der einzelnen Disziplinen letztlich immer nach einer geordneten Bahn und nach einer Darstellung als hierarchisch gegliederte Einheit. Der Begriff articulare (gegliederte Rede) bezeugt dies auf allen Ebenen für die Grammatik, für die Rhetorik und für die Regeln der klassischen Dialektik. Es ist eine unersetzliche Selbstverständlichkeit in allen wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Diskursen unserer Demokratie. – Das Irrationale in de Mans Äußerungen, namentlich ein gegenaufklärerischer Antirationalismus, kann zwar in Bezug auf seine Person mit allen Widersprüchen sprachlich dargestellt werden, wirklich verstehen tut man es aber trotzdem nicht. Das ist die Grenze der Schriftsprache. Diese Grenze des schriftsprachlich Nachvollziehbaren wird bei bei vielem überschritten, was den Nationalsozialismus betrifft, und insbesondere beim Holocaust. Wenn es hier kein Ergebnis geben kann, bleibt nur die permanente Auseinandersetzung. Es ist eben jenes Spiel, jene Dekonstruktion der Geschichte, die die Spurensuche zugunsten einer Betätigung aufrechterhält, die, solange diese Betätigung fortdauert, bereits eine viel menschlicher Zukunft verwirklicht; denn im Gegensatz zu anderen Erkenntnissen, die etwas abschließen und uns dann fortschreiten lassen, gibt es eben solche, die kulturell gelebt werden müssen, grade weil der Aufbau der Sprache, die uns so selbstverständlich als Vermittler von Lehren dient, hier nicht mehr ausreicht.
Selbst nach zweimonatiger „obsessiver Beschäftigung“ mit den Artikeln de Mans eröffnete Jacques Derrida eine eigens einberufene Diskussionsveranstaltung noch mit den Worten: „Ich möchte improvisieren.“ Im Folgenden setzte er sich dafür ein, dass sämtliche Quellen des Anstoßes ungefiltert der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Sein besagtes Buch über de Man (Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel), das er infolgedessen schrieb, und das Ausgangspunkt dieser Gedanken ist, kommt zu keinem Urteil: „Ich möchte nicht als Richter auftreten.“ So wird das Spiel respektive die Auseinandersetzung aufrechterhalten. Die Überwindung des Unsagbaren liegt genau in diesem Vorgang. Indem die erzählte Geschichte immer wieder auf alle ihre enthaltenen faktischen Spuren zurückgeführt wird, lässt sie sich zwar nicht gänzlich neu erfinden, aber im Bewusstsein dessen bleibt jene sinnstiftende Bewegung lebendig, die dazu taugt, dem unverhofft Kommenden im Hier und Jetzt den Boden zu entziehen.
J.-C. P. (06.2017)
Fußnote
01 Der Artikel ist am 04.03.1941 in der belgischen Zeitung „Le Soir“ erschienen und findet sich in Derrida; Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel – Paul de Mans Krieg II – Memoires II; Passagen Verlag GmbH; Wien; 1988